Romane

Im Reich des Zuckerrohrs

Leseprobe

Im Reich des Zuckerrohrs - Umschlagabbildung

London, 1830

„Ich bedauere Ihren Verlust“, sagte Dr. Jitter und hielt Emily die Hand hin. Der Druck seiner Finger fiel unnötig kräftig aus, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. „Meine … ähm … Rechnung schicke ich Ihnen in den nächsten Tagen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis. Wir müssen alle leben.“

„Natürlich. Natürlich“, stammelte Emily und wickelte den Schal enger um ihre Schultern, weil der Wind durch die undichten Fenster ins Zimmer pfiff. Obwohl es bereits Mitte Juli war, fiel draußen seit Tagen nur Regen, und der Himmel war so dunkel, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor.
Ähnlich empfand Emily im Augenblick auch ihre Lage. Der Vater hatte die kleine Familie mit seinen Buchillustrationen mühsam über Wasser halten können. Nach seinem Tod hatte die Mutter Näharbeiten angenommen, bei denen Emily ihr fleißig geholfen hatte, obwohl sie mit der Nadel nie wirklich geschickt gewesen war. Wie würde sie nun die Miete für ihre winzige Wohnung im Eastend zahlen, wenn sie über keinerlei besonderen Fähigkeiten verfügte? Sie wusste es nicht, aber die gespenstische Leere in dem dunklen Zimmer machte ihr im Moment noch mehr Angst als alle Sorgen um ihre zukünftige Existenz. Der bettlägerigen Mutter ihre Medizin zu verabreichen, sich um das nächste Essen zu kümmern und die Wohnung sauber zu halten ‒ all das hatte in den letzten Monaten ihren Alltag bestimmt. Aber die ganze Zeit war die Mutter noch bei ihr gewesen, hatte sie trotz Fieberschüben und schweren Hustenanfällen mit Ratschlägen unterstützt. Nun war Emily allein. Unter ihr hatte sich ein rabenschwarzer Abgrund aufgetan, sie fiel und fiel, ohne auch nur die Kraft zu haben, irgendwo nach Halt zu suchen.

„Brauchen Sie Hilfe bei der Organisation der Beerdigung?“ Dr. Jitter sah sie besorgt über die Ränder seiner Brille an.

Emily unterdrückte den Wunsch, sich an seinen großen, dünnen Körper zu lehnen, denn es tat so wohl, dass irgendjemand sie unterstützen wollte.

„Danke, aber … meine Mutter wurde doch schon abgeholt.“

Dr. Jitter hatte dafür gesorgt, dass der Leichnam sogleich in die Leichenhalle gebracht worden war, während Emily noch weinend im Schaukelstuhl gesessen hatte. Es würde nur eine Bestattung im Armengrab geben, so wie vor zwei Jahren bei ihrem Vater. Die Vorstellung, dass sie nicht einmal einen Ort haben durfte, wo sie regelmäßig Blumen für ihre Eltern ablegen konnte, ließ eine neue Tränenflut aus ihren Augen strömen. Verlegen wandte sie sich ab. Warum ging der Arzt nicht einfach und schickte dann seine Rechnung? Todesfälle wegen Schwindsucht mussten für ihn zur Tagesordnung gehören.

„Miss Habermash … gibt es, also … haben Sie Verwandte oder sonst jemanden, der Ihnen nahesteht und sich nun um Sie kümmern könnte?“

Seine Stimme klang so rührend besorgt, dass Emily einen Schritt in seine Richtung wagte. Er streckte seine Hand aus, um ihre Schulter zu tätscheln.

„Falls Sie Hilfe brauchen, also ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Teller, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Diese Gegend ist kein Ort für eine junge, gottesfürchtige Frau ohne Beschützer.“ Die Worte waren gütig, aber etwas an der Art, wie er nun ihren Arm zu streicheln begann, ließ Emily erschrocken zurückweichen. „Miss Habermash …“, begann er mit einem Räuspern.

„Ich bin Mrs Lawson!“

Früher hatte sie das Drängen ihrer Mutter, dass jede Frau einen Ehemann haben sollte, nie wirklich verstanden. Nun ergab es Sinn, denn allein die Anrede als Mrs war wie ein Schutzschild, hinter dem sie sich verstecken konnte. Dr. Jitter räusperte sich verlegen.

„Ich verstehe. Sie sind also Witwe“, stellte er fest. Emily schüttelte entschlossen den Kopf.

„Mein Mann lebt.“ Zumindest hatte sie bisher nichts Gegenteiliges gehört. „Er ist in Jamaika und predigt den armen Wilden das Wort Gottes.“

Dies hatte sie allen Nachbarn und auch dem Pfarrer erzählt, wenn nach dem Verbleib ihres Ehemannes gefragt wurde. Jeder verstand, dass sie ihren tapferen Gemahl nicht in die Wildnis hatte begleiten wollen. Auch Dr. Jitter nahm diese Umstände kommentarlos hin.

„In diesem Fall sollten Sie Ihrem Gemahl mitteilen, dass Sie nun seine Unterstützung benötigen“, sagte er mit etwas kühlerer Stimme. „Am besten noch heute, denn die Post nach Jamaika braucht mehrere Wochen. Falls Sie dennoch in Not geraten sollten, können Sie sich an mich wenden.“

„Vielen Dank, Sir“, murmelte Emily, denn sie war es gewohnt, Männern wie ihm Respekt zu zeigen. Vielleicht hatte sie sein Verhalten auch falsch interpretiert, und er hatte ihr wirklich nur helfen wollen.

„Ich wünsche Ihnen für Ihr weiteres Leben alles Gute, Mrs Lawson.“

Er entfernte sich mit einem höflichen Neigen des Kopfes. Emily zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm zufiel. Die Stille in den zwei Räumen, die sie seit frühester Kindheit bewohnt hatte, schien ihr plötzlich wie die Schreie der Händler und Huren am Hafen, so aufdringlich und voller Gewalt, dass es in den Ohren schmerzte. Wieder zerrte sie an den Rändern ihres Schals. Ihre Mutter hatte ihn für sie zu Weihnachten gestrickt, kurz nachdem Jeremiah nach Jamaika gesegelt war und sie sich geweigert hatte, ihn zu begleiten. Das Geschenk war wie ein Friedensangebot an die störrische Tochter gewesen, die sich nicht von ihren Eltern hatte trennen wollen. Emily konnte sich noch erinnern, wie sie dankbar über die roten und blauen Streifen gestrichen hatte. Niemand fertigte so akkurate, tadellose Handarbeiten wie ihre Mutter.

Sie ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Joanna Habermash würde niemals wieder einen Schal stricken oder Unterröcke nähen, denn sie war für immer aus dieser Wohnung, dieser Stadt, ja von der Welt verschwunden. Sie würde weder liebevolle noch ermahnende Worte an die Tochter richten können, auch nicht mehr husten, Blut spucken oder über Kopfschmerzen klagen. Die Mutter läge bald schon im Armengrab, während Emily sich in dieser Wohnung wie in einer Gruft fühlte. Es gab nichts außer Erinnerungen, um die winzigen Räume mit Leben zu füllen.

Wie betäubt schlich sie zu der Bank, auf der sie fast ihr ganzes Leben lang jede Nacht geschlafen hatte. Ihr Zusammenleben mit Jeremiah hatte sich auf etwa zwei Monate beschränkt, danach war sie zu ihren Eltern zurückgekehrt, ohne dass er sie aufgehalten hätte. Sie streckte sich aus und zog sich die zerschlissene Decke über den Kopf. Zwar würde sie nicht schlafen können, aber es tat wohl, eine Weile nichts weiter sehen zu müssen als Schwärze.

An Jeremiah schreiben, hatte Dr. Jitter gesagt. Sie hatte aber bereits geschrieben, als der Zustand ihrer Mutter sich drastisch verschlechtert hatte. Joanna Habermash hatte selbst dazu gedrängt. Ein guter Christ würde sich um seine Ehefrau kümmern, weil Gott der Herr es ihm aufgetragen hatte. Nur war auf ihr Schreiben bisher keine Antwort gekommen, obwohl es schon vor etwa einem halben Jahr abgeschickt worden war.

Jeremiah. Ihr Ehemann. Ihr wurde bewusst, dass sie sich nur noch undeutlich an sein Gesicht erinnern konnte. Er hatte schütteres, mittelbraunes Haar gehabt, kleine, aber freundliche Augen und dicke Backen, als sei er ständig am Kauen. In den wenigen Nächten, da er auf ihr gelegen hatte, waren ihr diese Backen besonders aufgefallen und sie hatte an einen Hamster denken müssen. Jedes Mal, wenn Jeremiah sich nach einem tiefen Stöhnen von ihr heruntergerollt hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, von Schleim bedeckt zu sein, der aus dem Mund und anderen Körperöffnungen ihres Gemahls stammte.

Aber nun brauchte sie ihn, wie die Mutter ihr vor dem Tod klargemacht hatte. Als letzten Rettungsanker in einer Notlage. Dafür hatte Gott der Herr offenbar Ehemänner geschaffen.

Unter der Matratze, auf der Joanna Habermash sich das Leben aus der Lunge gehustet hatte, lag ein Umschlag mit Geld. In ihren letzten klaren Momenten hatte die Mutter ihn ihr gezeigt.

„Damit kommst du nach Jamaika, Kind. Wenn er dir nicht schreibt, dann musst du einfach zu ihm fahren.“

Das Fieber musste aus Joanna Habermash gesprochen haben. Bei der Vorstellung, dieser Weisung zu folgen, verspürte Emily eine Welle von Panik, die sie erzittern ließ. Was sollte sie allein unter Wilden, auf der Suche nach einem verschollenen Ehemann? Aber dazu würde es nicht kommen. Jeremiah würde ihr einfach Geld schicken, das sicher bald ankommen musste. Auf Jamaika gab es reiche Zuckerbarone, die es gewiss begrüßten, wenn ihre Arbeitskräfte zu frommen Christenmenschen geformt wurden. Sie bezahlten Jeremiah. Es war nur eine Frage der Zeit, dann kämen die Dinge wieder ins Lot.

„Alles wird gut“, sagte Emily mit lauter Stimme zu sich selbst. Trotzdem fror sie so erbärmlich, dass sie das Klappern ihrer eigenen Zähne hören konnte. Es hallte durch die menschenleeren Räume wie ein Dröhnen. Draußen schrie eine heisere Frauenstimme um Hilfe. Das kam öfter vor, es gab Prostituierte in der Nähe, und manche Ehemänner verprügelten regelmäßig ihre Frauen. Trotzdem schien es Emily nun, als wäre dieser Schrei unmittelbar aus ihrer eigenen Seele gekommen. Sie verbarg das Gesicht in ihrem Kissen. Wenigstens konnte sie nun ungehemmt weinen, ohne dass jemand sich ihretwegen Sorgen machte.

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