Romane

Schwarze Seide

Leseprobe

Schwarze Seide - Umschlagabbildung

18. März 1787

Wir sitzen etwas abseits der anderen Fahrgäste, deren Gerede ich bereits ganze zwei Stunden während der Kutschfahrt ertragen musste. Obwohl ich, ganz anders als in meiner Kindheit, durchaus an Gesellschaft gewöhnt bin, erschöpfen mich langatmige Konversationen, wenn ich nicht ein Glas Champagner in der Hand halte, der meine Zunge ein wenig löst. Außerdem kann ich hier in unserer Nische ungestörter schreiben.

Seit einer Stunde pausieren wir jetzt in dieser wenig standesgemäßen Herberge. Der Wirt ist überaus mürrisch. Als er uns das Bier auftischte, betrachtete er uns abschätzig. Vor allem auf Jelena ruhten seine Blicke. Sie prangt ganz in Rot, die Lieblingsfarbe russischer und, soweit ich gesehen habe, auch böhmischer Bauersfrauen. Unauffällig bin auch ich selbst wohl für diese ländlichen Verhältnisse nicht. Mein Haar, mein Gewand und gar meine Schuhe zieren Schleifen, Rüschen und Bänder. Silberohrringe mit verschiedenfarbigen Steinen schaukeln in meinen Ohren wie Schiffe, die exotische Fracht transportieren, und an den Fingern meiner Hände blitzt es ebenso farbenfroh. In den letzten Jahren habe ich mich meiner neuen Umgebung schneller angepasst als jemals zuvor. Vielleicht, weil ich mich fühlte wie ein Fisch, der endlich in ein Gewässer gelangt ist, das seinem Naturell entspricht.

Ich nippte an dem Bier, das fade schmeckt, wie es englischem Bier eben eigen ist. Als ich den Krug wieder auf den Tisch stellte, stieß ich gegen mein Tintenfass und verfluchte meine ewige Geistesabwesenheit, die immer wieder zu solchen Missgeschicken führt. Unterdessen breitete sich ein dunkler Fleck auf dem Holztisch aus. Jelena sprang auf, um ihr Kleid vor Verschmutzung zu bewahren, und brachte den Tisch dadurch zum Beben. Bier schwappte aus unseren Krügen, vermischte sich langsam mit der Tinte zu fein geschwungenen Mustern, um schließlich einen neuen Farbton entstehen zu lassen, der leider auch einen Volant meines Ärmels erfasste.

»Gottverdammter Mist«, hörte ich meine eigene Stimme sagen und erkannte, dass ich zu allem Übel auf Englisch geflucht hatte. Auch darin war mein Liebhaber ein guter Lehrmeister. Jelena zauberte ein Taschentuch aus ihrem Beutel, um sogleich für Sauberkeit zu sorgen. Glücklicherweise ist der Fleck auf meinem Ärmel sehr klein und verschwindet fast zwischen den Wellen des Volants. Ein Schatten tauchte hinter Jelenas Schulter auf. Der Wirt brachte einen feuchten Lappen und entfernte mit missmutiger Miene die Folgen unserer Ungeschicklichkeit. Aus lauter schlechtem Gewissen bestellte ich noch ein weiteres Bier, auch wenn ich vielleicht gar nicht die Zeit haben werde, es zu trinken.

Jelena hingegen hatte Brot, englischen Käse und Obst mitgebracht, da sie den Kochkünsten von Herbergsbesitzern, vor allem den ausländischen, generell misstraut. Ich schaute gleich nach dem Wirt und fragte mich, ob er unangenehm reagieren würde, wenn wir sein Essen so deutlich mit Verachtung strafen. Aber er schien beschäftigt. Erst als Jelena ihren Proviant vor aller Augen ausbreitete, beehrte er uns erneut mit seiner Gegenwart.

»Es gibt hier eine Küche«, erklärte er nachdrücklich. Jelena nickte und biss in einen Apfel.

»Wir haben warmes Essen. Fleisch und Kartoffeln. Auch Brot und Würste für eine schnelle Mahlzeit.«

Ich schenkte ihm mein freundlichstes Lächeln und versicherte, nicht hungrig zu sein. Das war zwar eine Lüge, doch ich kann Jelenas Vorräte auch in der Kutsche verzehren, was ohnehin eine bessere Idee gewesen wäre. Jelena kaute indessen unbeirrt an ihrem Käsebrot.

»Wenn die Damen nichts von meinem Essen wollen, dann können sie mit ihrem eigenen auch nach draußen gehen.« Der Wirt wurde lauter und deutlicher. Getuschel und ein paar Lacher drangen an mein Ohr. Einer unserer Mitreisenden, ein junger Anwalt, war aufgestanden und machte Anstalten uns zu Hilfe zu kommen, was ich vermeiden wollte, denn dann würde ich den Rest der Reise sein Gerede ertragen müssen. Daher versetzte ich meiner Zofe einen Tritt unter dem Tisch. Sie wendete langsam ihren Kopf zur Seite, um so endlich zuzugeben, dass sie die Anwesenheit des Wirts bemerkt hatte.

Jelenas Gesicht ist wandlungsfähig. Manchmal kann sie wie ein junges, kokettes Mädchen aussehen, dann wieder gleicht sie einer strengen Erzieherin. Doch jene Miene, die sie nun aufsetzte, ist ihre liebste Waffe gegen alle anstrengenden Zeitgenossen: Mit ihren hohen Wangenknochen und den leicht schrägen Augen verwandelte Jelena sich in den Inbegriff bäuerlicher Beschränktheit, als reiche ihr Verstand gerade noch dazu, Kühe zu melken und die Ernte einzubringen.

»Ich nicht verstehen«, murmelte sie und ich unterdrückte ein Lachen. Glücklicherweise war der Wirt nicht dabei, als sie in London mit dem Kutscher schäkerte, um den Preis für die Fahrt nach Bristol herunterzuhandeln.

»Sie kann leider kaum Englisch«, mischte ich mich nun ein und verfluchte Jelena im Stillen, weil ich ihretwegen immer wieder zur Schauspielerin werden musste, nicht gerade meine größte Begabung. »Sie ist Russin und erst seit kurzem hier. Sie müssen verstehen, Russland ist ein armes Land. Dort gibt es keine Wirtshäuser, wo man Essen bekommt. Sie ist es gewöhnt, ihre eigenen Vorräte mitzubringen. Aber mir können Sie gern Brot und Wurst für die Reise einpacken.« Ich gönnte dem Wirt das süßeste Lächeln, zu dem ich fähig bin. Einiges habe ich doch gelernt von meiner Zofe, die mich prompt zornig anfunkelte, weil ich Lügen über ihre Heimat verbreitete. Außerdem bin ich ja auch schuld daran, dass wir überhaupt hier sind, in der Fremde, und nun auch noch auf dem Land.

Ich habe das Landleben selbst nie besonders geliebt, ganz gleich, in welchem Land ich mich gerade aufhielt. London vermisse ich schon jetzt. Die Stadt ist mir in den letzten drei Jahren ans Herz gewachsen, mehr als jede andere, in welcher ich jemals gelebt habe. Und das waren viele. Ich sehne mich nur selten zurück nach den Orten meiner Geburt und Kindheit, dem kaiserlichen Wien oder der alten, verträumten Stadt Prag. Beide sind für mich Geschichte. Doch das lebendige London fasziniert mich, sein Farbenreichtum entspricht meinem Gemüt. Hier wurde ich zur Künstlerin. Sogar die Neugierde, einmal meine wahre Heimat zu sehen, hat nachgelassen. Aber das ist nicht verwunderlich.

Ich bin Malerin. Ich entwerfe Theaterkulissen und Kostüme. Ich male Bilder und bekomme Geld dafür. All das, wovon ich jahrelang träumte, hat sich erfüllt. Manchmal fürchte ich, eine Schlafende zu sein, der bald schon ein enttäuschendes Erwachen blüht. Doch bisher hat der Traum kein Ende gefunden.

Unsere Mitreisenden schauen die ganze Zeit herüber. Der junge Anwalt verschlingt Jelena und mich mit seinen Blicken und die beiden Witwen fortgeschrittenen Alters zerreißen sich offensichtlich die Mäuler über uns. Seufzend unterdrücke ich den Wunsch, mir eine Zigarre anzuzünden. Vielleicht findet sich später eine Gelegenheit, um kurz im Wald zu verschwinden.

Nachdem der Wirt sich damit abgefunden hatte, eine unzivilisierte Wilde als Gast zu haben, fragte ich Jelena auf Deutsch: »Gefällt dir die Reise nicht? Du bist doch in der Provinz aufgewachsen.« Jelena trank von dem Rest ihres Biers und verzog das Gesicht.

»Deshalb muss ich das Landleben aber nicht mögen. Wie lange dauert es noch, bis wir endlich da sind?«, erwiderte sie auf Russisch, lauter als notwendig. Als ob wir nicht schon genug aufgefallen wären! Ich beschloss, sie ein wenig zu ärgern, und fuhr auf Englisch fort, denn der Wirt schien außer Hörweite.

»Noch ein paar Stunden bis Bristol, denke ich. Es kommt darauf an, wie viele Pausen wir machen. Und dort werden wir abgeholt. Ich weiß leider nicht genau, wie weit Marie Luises Heim von Bristol entfernt ist.«

Sie verzog das Gesicht, um mir klarzumachen, was für eine alberne, vollkommen überflüssige Idee diese Reise in ihren Augen war. So wie die meisten Ideen, welche ich seit dem Tod meines Vater gehabt hatte. Ich ärgere mich ein wenig über ihre Undankbarkeit. Wer weiß, wie ihr weiteres Leben in Russland verlaufen wäre, hätte ich mich damals entschlossen, der Einladung meiner Tante nach Moskau zu folgen. Dann hätte Jelena dort als eine von vielen Leibeigenen im Haushalt arbeiten können, den Launen meiner Tante ausgeliefert und ohne jedes Recht, deshalb auch nur verärgert dreinzublicken.

Aber mir stand der Sinn nicht danach, mit Jelena zu streiten. Sie wird dabei meist sehr laut und sehr russisch. Ein paar der einheimischen Gäste starrten uns außerdem bereits unverhohlen an. In London gingen wir in der Masse von Seeleuten, Händlern und Weltenbummlern, von Durchreisenden und dort ansässigen Fremden unter. Aber hier auf dem Land ist es ganz und gar englisch. Wir passen beide nicht hierher, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Seit es mir endlich gelungen ist, etwas Geld zu verdienen, und Jelena noch zusätzlich für unsere Nachbarn wäscht, kann sie sich ein wenig Luxus leisten: drei leuchtend rote Kleider, aus Baumwolle und Leinen, ja eines gar aus Seide. Es ist gewiss nicht neu, doch gut erhalten. Sie muss es auf einem jener Märkte erworben haben, die sie mit Vorliebe aufsucht. Rot ist eine gewagte Farbe für eine Frau von über vierzig Jahren, vor allem im puritanischen England. Zudem harmoniert dieser Farbton nicht unbedingt mit dem rötlichen Schimmer ihres kastanienbraunen Haars. Aber das kümmert Jelena nicht. Sie hat ein buntes Tuch um ihre Schultern geworfen, so wie es die einfachen Russinnen tun. Es kann unmöglich noch aus Russland stammen, sie ist seit über zwanzig Jahren nicht in ihrer Heimat gewesen. Die Tücher und Kleider und skurrilen Schätze, die sie zu einer Verkörperung aller Fantasien machen, welche es hierzulande wohl über Russinnen gibt, entdeckt Jelena auf ihren Märkten. Ob diese Fantasien richtig oder falsch sind, scheint dabei völlig unwichtig. In Wien und Prag hat sie sich viel unauffälliger gekleidet. Doch hier, so weit von ihrer Heimat entfernt, wie es der europäische Kontinent nur zulässt, will sie plötzlich ihre Herkunft zur Schau stellen.

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