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Die Dichterin von Aquitanien

Leseprobe

Die Dichterin von Aquitanien - Umschlagabbildung

Es war ein grauer Märztag. Der Himmel hing tief über den Dächern des Dorfes, andauernder Regen hatte den letzten Schnee fortgeschwemmt, die Erde in schwammigen, dreckigen Brei verwandelt. Schweine und Hunde wühlten darin herum. Marie watete mühsam durch den Schmutz, der ihr fast bis zu den Waden reichte. Vor zwei Monaten war sie vier geworden und ihre Füße mussten sich ebenso plötzlich verlängert haben wie die Zahl ihrer Lebensjahre. Ihre hölzernen Schuhe hatte Guillaume im vorigen Sommer aus Paris mitgebracht. Sie zwängten bereits ihre Zehen ein, so dass jeder Schritt sich anfühlte wie ein Tritt gegen die Klinge eines Messers. Glücklicherweise war es nicht mehr weit bis zum Brunnen, doch würde der Rückweg mit einem hoffentlich wenigstens halbvollen Eimer noch anstrengender werden. Der Ziehvater Guillaume war wieder einmal angetrunken vom gestrigen Dorffest gekommen und hatte das Fass umgeworfen, in dem Regenwasser aufgefangen werden sollte. Marie wusste, dass seine Kehle durstig brennen würde, sobald er aufwachte. Agnes, die gelegentlich aushalf, um die wuchernde Unordnung einzudämmen, hatte nur mit den Schultern gezuckt.

»Soll der Schwätzer doch aus seinen Fehlern lernen!«

Aber Marie mochte es nicht, wenn Guillaume schlechter Laune war.

Sie nickte den Dorfbewohnern entgegen und ging entschlossen weiter, auch wenn nicht alle ihren Gruß erwiderten. In ihrem Rücken summte das übliche Getuschel. Sie hatte bereits gelernt, ihre Ohren davor zu verschließen. Pierre, der Sohn des Schmiedes, lächelte sie freundlich an, und der Anblick seines vertrauten Gesichts war wärmend. Nicht alle Menschen hier dachten schlecht von ihr.

Glücklicherweise stand niemand vor dem Brunnen, so dass sie nicht warten musste. Marie stellte sich auf einen Stein, um etwas größer zu werden, befestigte den Henkel des Eimers am Seil und ließ ihn in die schwarze Tiefe fahren. Kurz darauf krallten ihre Finger sich entschlossen um den hölzernen Hebel, damit das Seil um die Winde gewickelt und so der Eimer wieder nach oben befördert werden konnte. Da sie selbst für ihr Alter recht klein war, musste sie dabei die Arme hochstrecken. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen im Dorf hatte sie keine von harter Arbeit gestählten Muskeln. Sie musste nur selten im Haushalt helfen, denn Guillaume hielt das für unwichtig. Schmutz oder Unordnung würde er erst bemerken, wenn er darüber stolperte und dann auch noch mit dem Gesicht hineinfiel, wie Agnes immer wieder anmerkte. Stattdessen hatte er vor kurzem begonnen, Marie im Lesen und Schreiben zu unterweisen, so dass sie ihre Zeit über eine Schiefertafel gebeugt zubrachte. Diese Tätigkeit gefiel ihr, befähigte sie aber nicht unbedingt, Eimer aus tiefen Brunnen zu ziehen. Marie stöhnte laut, als das hölzerne Gefäß endlich den Brunnenrand erreicht hatte. Ihre Handflächen brannten vom Druck des Hebels. Das glatte, feuchte Holz entglitt ihr, sobald sie es über den Brunnenrand hieven wollte. Zum Glück schwappte nicht alles Wasser wieder in die Tiefe. Keuchend vor Erschöpfung stellte Marie schließlich einen nicht ganz halbvollen Eimer neben sich in den Schlamm. Ihre Arme fühlten sich an, als würden sie jeden Moment abfallen.

»Da kommen Leute!« erklang es in ihrem Rücken. Sie wandte sich um.

Auf der platt getretenen Straße rückten tatsächlich Gestalten heran. Marie erblickte drei Reiter. Im Hintergrund entdeckte sie weitere Umrisse, die ein Gefolge andeuteten. Plötzlich hörte sie den Schlag ihres Herzens. Es kam gelegentlich vor, dass Händler in Huguet, dem winzigen, verschlafenen Dorf im Umland von Paris, Halt machten, doch die hatten nur Esel und Karren. Bei diesen Männern musste es sich um Ritter handeln, jene Helden und Abenteurer, von denen Guillaume ihr erzählt hatte. Nun ritten sie in Maries Leben hinein. Die anderen Anwohner drängten sich verunsichert an Hauswände, aber Marie blieb wie angewurzelt stehen. Die Geschichten ihres Ziehvaters bekamen plötzlich Farbe. Die duftende, bunte Weite der Welt rückte näher heran.

Die Reiter trugen dunkle, wollene Umhänge, die sie vor der Unwirtlichkeit des Wetters schützten. In ihrer Mitte saß eine etwas kleinere Gestalt mit schmalen Schultern auf einem weißen Pferd, an dessen Zaumzeug bunt verzierte Glocken bimmelten. Sie war ebenfalls eingemummt, doch als sich das Gesicht unter der Kapuze seiner Umgebung zuwandte, erstarrte Marie vor Staunen. Guillaumes Beschreibungen von Feen und zauberhaft schönen Damen erblühten in ihrem Gedächtnis.

»Ihre Hoheit ist durstig.«, hallte eine herrische Männerstimme durch das allgemeine Schweigen. Die Dorfbewohner blieben in ihrer furchtsamen Starre gefangen. Marie deutete zaghaft auf den Eimer an ihrer Seite.

Sie sah, wie der Sprecher sich aus dem Sattel schwang und auf sie zukam. Sein Gesicht war von Falten durchfurcht, hart wie abgenutztes Leder. Ein Schwert hing an seinem Gürtel, bewegte sich im Rhythmus seiner Schritte. Er hielt ihr einen Becher entgegen.

»Das ist zwar nur fades Brunnenwasser, aber wir haben nicht viel Zeit. Sonst würde ich den Tölpeln hier Manieren beibringen, damit sie schleunigst Wein besorgen. Jetzt mach schon, Mädchen! Und wenn du denn Becher zerbrichst, dann bist du tot.«

Maries Körper gehorchte, als sei sie eines von Guillaumes dressierten Tieren. Obwohl es ihr nun leid tat um das mühsam erkämpfte Wasser, von dem ohnehin nicht viel übrig war, senkte sie den Behälter in ihren Eimer, zog ihn gefüllt wieder heraus und bemerkte erst dann, dass er aus einem Material gemacht schien, das den Hintergrund nicht verbarg, sondern milchig hindurchschimmern ließ. Wieder meinte sie, sich in einer von Guillaumes Geschichten zu befinden, und dieses Gefühl der Unwirklichkeit gab ihr den Mut, einfach mit dem Becher in der Hand auf die Unbekannte zuzugehen.

Aus der Nähe betrachtet schien die Fremde noch zauberhafter. Ihre Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee, die blaugrauen Augen erinnerten Marie an wolkenlosen Himmel im Morgengrauen. Sie streifte den Handschuh ab und eine schmale, mit bunten Ringen geschmückte Hand streckte sich Marie entgegen, um das Wasser im Empfang zu nehmen.

»Danke, mein Kind. Wie ist dein Name?«

Marie wurde leicht schwindelig. Vielleicht lag es an dem süßen, schweren Duft, der von der Dame ausging. Dennoch klang ihre Stimme sicher und gefasst, als sie sich vorstellte.

»Du bist ein nettes Mädchen, kleine Marie. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Es würde mich freuen«, erwiderte die Dame lächelnd, bevor sie zusammen mit den anderen Reitern auf der Straße Richtung Paris verschwand.

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