Romane

Die Träume der Libussa

Leseprobe

Die Träume der Libussa - Umschlagabbildung

Die Frau saß vor dem Eingang einer Höhle. Er hatte sie bereits von weitem gesehen, denn sobald der Mond hinter den Wolken verschwand, war ihr Lagerfeuer das einzige Licht in der tiefschwarzen Nacht. Sie musste sein Kommen bemerkt haben, hatte sich aber nicht in die Höhle zurückgezogen. Ihr Gesicht wurden brennenden Holzscheiten zugewandt.

»Sei gegrüßt«, sagte er in der Sprache der Kelten und sprang vom Pferd. Im Feuerschein sah er die Zeichen auf ihrer Stirn, die mit den Flammen zu tanzen schienen. Sonst bewegte sich nichts an ihr, und seinen Gruß schien sie nicht zu hören. "Ich bin Krok, der Stammesführer der Behaimen.« Trotz der nächtlichen Kühle nahm er seinen Umhang ab. Sie sollte an den Tätowierungen auf seinen Armen erkennen, dass sie Verbündele waren. Wenn er in von Christen besiedelte Gebiete reiste, ließ Krok die Symbole stets bedeckt, um keine Furcht oder Feindseligkeit heraufzubeschwören. Doch hier, am Berg der Göttin, war der rechte Ort, sie mit Stolz zu zeigen. Er setzte sich unaufgefordert ans Feuer. »Ich weiß, es ist Männern untersagt, hierherzukommen."

Sie hob den Kopf, ein erstes Zeichen, dass sie lebendig war und keine Steinstatue. Ihr Gesicht glich dem eines Wiesels, spitz und forsch. »Warum kommst du dann!«

»Weil es wichtig ist. Wie gesagt, ich bin ...«

»Ich weiß, wer du bist. Gibt dein Rang dir das Recht, die alten Regeln zu brechen?«

»Ich will keine Regeln brechen, sondern bitte dich, sie meinetwegen einmal zu missachten. Höre mich an, denn meine Lage ist ernst, und ich brauche deinen Rat.«

Hast du keinen anderen Ratgeber, Stammesführer der Behaimen? Gibt es unter euren Leuten keine Weisen?«

»Es gibt niemanden, der mich besser beraten könnte als du. Meine Schwester Scharka ist schon oft zu dir gekommen. Du kannst dich sicher an sie erinnern.«

"Zu mir kommen viele Frauen aus vielen Völkern. Wir verehren alle dieselbe Göttin, ganz gleich, ob wir sie Rigani, Freya oder Mokosch nennen."

»Meine Schwester war die Fürstin unseres Stammes, der Cechen, außerdem Hohe Priesterin aller Stämme der Behaimen, Das musst du gewusst haben.«

Sie musterte ihn nachsichtig, wie eine gutmütige Mutter ihr vorlautes Kind. »Natürlich wusste ich das, Krok. Und ich weißauch, dass sie heute Morgen gestorben ist. Bist du aus diesem Grund zu mir gekommen?«

Er war versucht zu fragen, wer ihr von Scharkas unerwartetem Tod erzählt hatte, besann sich dann aber eines Besseren. Die Keltin könnte meinen, er wollte ihre seherischen Fähigkeiten in Frage stellen. Natürlich konnte sie es von einer Frau aus seinem Volk erfahren haben, die an diesem Tag zufällig bei der Seherin gewesen war, doch viele Jahre des Verhandelns mit Stammesoberhäuptern und Königen hatten Krok gelehrt, dass man die Begabung anderer Menschen niemals unnötig anzweifeln sollte.

»Ja, das ist der Grund meines Besuches. Ich brauche deinen Rat.«

Die Keltin zog ihre buschigen Brauen zusammen. Ihr Wieselgesicht betrachtete ihn misstrauisch, aber nicht ohne Neugierde.

»Wie du weißt, sind die Behaimen den alten Traditionen treu geblieben. Besitz und Stellung im Clan gehen von der Mutter auf die Töchter oder auch auf die Söhne über, wenn es sich um Aufgaben handelt, die Männern zufallen. Der Fürstenclan der Cechen führt unser Volk seit der Zeit des großen Samo, dem es gelang, die Stämme zu einen und uns vom Jochder Awaren zu befreien. Die erste Hohe Priesterin unseres Volkes war bereits eine Fürstin der Cechen, ihr Bruder der Anführer aller Stämme unseres Volkes. Ich selbst bin Stammesführer geworden, weil eine Cechen-Fürstin mich gebar und die fürstlichen Clans der übrigen Stämme meiner Ernennung zustimmten. Es ist meine Aufgabe, mit unseren Freunden und Feinden zu verhandeln, damit mein Volk in Frieden leben kann, oder auch einen Krieg anzuführen, falls dieser notwendig ist. Doch in allen anderen Fragen, die unser Wohl und Wehe betreffen, soll eine Frau die große Göttin auf Erden vertreten und Entscheidungen treffen.«

Er ging davon aus, dass seine Rede der Keltin gefallen würde. Auch unter ihren Leuten halten Römer und andere Eindringlinge bereits dafür gesorgt, dass Männer begannen, alle Macht für sich zu beanspruchen. Sie selbst besaß nur noch den Einfluss einer Priesterin, der allerdings beträchtlich war, da man ihre Klugheit schätzte.

»Die Zeiten sind nicht einfach«, fuhr Krok nach einer kurzen Pause fort und wollte zu einer längeren Rede ansetzen, doch die Keltin fiel ihm sogleich spöttisch ins Wort: »Und wann sind sie das jemals gewesen?«

Er ärgerte sich über ihr barsches Verhalten, aber als Gesandter seines Volkes hatte er lernen müssen, sich niemals unbedacht herausfordern zu lassen. »Du hast natürlich recht. Wir hatten schon immer Feinde und waren Gefahren ausgesetzt. Aus unserer Heimat im Osten haben uns schrägäugige Riesen vertrieben, die unsere Dörfer und Siedlungen unter den Hufen ihrer Pferde begruben. Unser Volk musste fortziehen und sich aufteilen. So kamen meine Ahnen mit ihrem Anführer Cech in diese Gegend, wo wir ein neues Zuhause fanden. Seit meine Schwester und ich die Behaimen anführen, bemühen wir uns um Frieden zwischen allen Stämmen, aber auch mit anderen Völkern, so dass wir seit Jahren nicht mehr in den Kampf ziehen mussten. Doch nun droht eine neue Gefahr von den Franken. Es heißt, ihr König plane, sein Reich auszudehnen."

»Jeder Sieger stößt einmal auf einen Gegner, der ihn besiegt«, meinte die Keltin gleichmütig. Krok begriff sofort, worauf sie anspielte. »Ich weiß, meine Leute haben euer Volk einst von den Bergen in die Niederungen getrieben«, gab er unumwunden zu, denn es hatte wenig Sinn, diesen Umstand zu leugnen. »Wir brauchten selbst Land, um zu leben. Doch es war stets mein Ziel, Frieden mit deinen Leuten zu wahren. Ich habe großen Respekt vor eurem Wissen, das viel älter und tiefer ist als das unsere.«

Diese Schmeichelei zeigte nicht die erhoffte Wirkung. Die Miene der Keltin blieb verschlossen. »Unsere Zeit ist vorbei, Krok«, meinte sie nach einer Weile des Schweigens, "Das weiß ich schon lange. Ihr habt euer Volk nach dieser Gegend benannt, aber ihr wisst wohl nicht einmal, woher dieser Name eigentlich stammt. Die großen Boii, ein keltischer Stamm, hatten einst das Sagen in diesem Land, das ihr jetzt beansprucht. Doch das ist schon lange her. Bereits die Germanen haben unsbesiegt, noch bevor ihr gekommen seid. Später werden andereVölker die Gegend beherrschen. Vielleicht das deine, vielleicht die Franken. Was kümmert es mich?"

Krok holte Luft. Nun endlich wusste er, mit welchen Worten er den Gleichmut der Keltin erschüttern konnte: »Wir nahmen euer Land, doch wir ließen euch an anderer Stelle in Frieden leben. Wir raubten euch nicht eure Sitten und euren Glauben. Die Franken werden anders sein. Als Anhänger des Gekreuzigten dulden sie nur ihren einen Gott, dessen Leichnam sie regelmäßig verspeisen. Eine wie dich werden sie töten, sie sich nicht zu ihrem Christus bekehrt."

Die Keltin spuckte ins Feuer. Krok war sich nicht sicher, ob dieser Ausdruck der Verachtung den Franken galt oder ihm.

»Wie können diese Franken die große Mutter leugnen? Wissen sie nicht, wer sie geboren hat?«

»Sie verehren die Mutter ihres Gottessohnes. Aber sie haben eine Jungfrau aus ihr gemacht«, erklärte Krok. Er war den Christen auf einmal fast dankbar dafür, denn mit dieser Ungeheuerlichkeit halfen sie ihm, die Priesterin für seine Sache zu gewinnen.

»Ich habe davon gehört«, meinte sie langsam. »Zwar darf ich diesen Ort nicht verlassen, aber manche Frauen gehen meinetwegen einen weiten Weg. Nun gut, jetzt sage mir endlich ohne Umschweife: Warum bist du gekommen?«

»Weil ich die allen Sitten wahren will«, betonte Krok nochmals, doch sie verzog nur ungeduldig das Gesicht.

»Das habe ich bereits begriffen. Worum genau geht es dir?"

»Ich muss eine Nachfolgerin bestimmen, die zukünftige Fürstin der Cechen, die auch Hohe Priesterin aller Behaimen ist. Meine Schwester starb völlig unerwartet. Sie hatte keine Zeit, eine ihrer Töchter für dieses Amt auszuwählen, Aber ich weiß, dass sie mit allen drei Mädchen oft zu dir kam. Vielleicht kannst du mir sagen, für welche Tochter sie sich entschieden hätte?«

Aufmerksam musterte er das spitze Gesicht der Keltin. Sie wirkte nicht überrascht wegen seiner Bitte, aber vermutlich schickte es sich nicht für eine weise Frau, Staunen zu zeigen. Erst nach längerem Nachdenken sagte sie: »Es stimmt, dass deine Schwester gelegentlich hierher kam, um mit mir gemeinsam die Göttin zu ehren. Manchmal sprachen wir auch über die unterschiedlichen Sitten unserer Volker. Sie hatte Respekt vor meinen Leuten. Trotzdem, Krok, kanntest du sie besser als ich. Ihr wart vom selben Blut Weißt du wirklich nicht, was ihr Wunsch gewesen wäre?«

Krok warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, Warum hatten Weise und Seher nur diese Unart, klare Antworten zu verweigern?

Auch Dragoweill, der Anführer der Wilzen, klagte oft über die endlos langen widersprüchlichen oder rätselhaften Aussagen seiner Druiden. "Leider hat sie mit mir nie darüber gesprochen«, sagte er höflich. »Deshalb komme ich jetzt zu dir.«

»Aber du kennst sie doch, deine drei Nichten. Warum entscheidest du nicht selbst, Stammesführer der Behaimen?«

Warum beantwortest du nicht einfach meine Frage, Priesterin der Kellen?, dachte Krok ungeduldig, wählte aber seine tatsächlichen Worte mit größerer Vorsicht:

"Dies scheint mir eine Angelegenheit der Frauen zu sein."

Falls die Keltin diese Aussage löblich fand, so zeigte sie es nicht. »Dann nenne mir die Aufgaben einer Fürstin und Hohen Priesterin. Was soll sie tun, das dir als Stammesführer nicht zusteht?«

»Als Hohe Priesterin vertritt sie die Sonnengöttin Mokosch auf Erden. Deshalb leitet sie die religiösen Feiern und Zeremonien aller Behaimen, Unsere Leute können in Streitfallen zu ihr kommen. Meine Aufgabe als Stammesführer ist es, Verhandlungen mit anderen Völkern zu führen. Und ich kann die fürstlichen Clans all unserer Stämme auffordern, mit mir in den Krieg zu ziehen. Doch ohne die Zustimmung der Hohen Priesterin verstößt jeder Kriegszug gegen die Wünsche der Götter."

Er und seine Schwester Scharka hatten sich jedoch nicht nur diese Aufgaben geteilt. Sie waren die zwei wichtigsten Pfeilergewesen, die das Herrschaftsgebäude stützten.

> Entstehungsgeschichte
> Handlung
> Überblick / Weitere Romane