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Rückkehr in die Fremde

Leseprobe

Rückkehr in die Fremde - Umschlagabbildung

»Sind alle Frauen in Europa so schön wie meine Mutter?«, fragte Meihua und legte ihre Schreibfeder zur Seite. Mit schräg geneigtem Kopf musterte sie Giacomo in seiner dunklen Robe und mit dem von kurzen schwarzen Locken bedeckten Schädel. Neben ihrer Mutter war er der einzige Europäer, den sie kannte.

Nun räusperte er sich, wie immer, wenn sie vom Inhalt der Unterrichtsstunden ablenkte.

»Nein, natürlich nicht. Daheim in Siena hatte ich zwei Schwestern, die … etwa so aussahen wie ich, also unscheinbar. Nun aber sollten wir uns weiter der Heiligen Schrift widmen.«

Meihua bemerkte zwei Falten auf seiner sonst glatten Stirn und die Einkerbungen an seinen Mundwinkeln. Er gab sich große Mühe, wie ein echter Gelehrter aufzutreten, doch wusste sie inzwischen, dass ihre aufmerksamen Blicke ihn leicht in Verlegenheit brachten. So wie jetzt, da seine helle Haut von einem feinen Rot überzogen wurde. Zufrieden widmete sie sich nun dem Buch, das aufgeschlagen zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Die Schrift der Europäer war einfach, wenn man einmal ihr Prinzip begriffen hatte. Die lateinische Sprache hatte hingegen ihre Tücken, da sie auf zahlreichen, im Grunde völlig sinnlosen Regeln basierte. Warum mussten Wörter sich entsprechend ihrer Rolle in einem Satzgefüge ändern, wenn ihre Bedeutung doch dieselbe war? Konzentriert begann sie zu übersetzen:

Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt, und mit den Ohren hören sie schwer, und ihre Augen haben sie verschlossen, dass sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.

»Offenbar hatte der Sohn des Christengottes ähnliche Probleme, sich Gehör zu verschaffen wie etliche Herrscher«, murmelte sie und sah den jungen Jesuitenpater abwartend an. Gleich würde er sich wieder räuspern und dazu auch noch am Kopf kratzen, um sein Erschrecken über ihre dreiste Aussage zu überspielen.

Er verhielt sich ganz wie erwartet, warf ihr gleich darauf einen seiner bemüht ernsten Blicke zu.

»Zwischen unserem Herrn Jesus und den nun wieder wechselnden Herrschern dieser Insel gibt es wesentliche Unterschiede«, dozierte er.

»Ja. Natürlich. Der Herr Jesus besuchte niemals Taiwan«, erwiderte Meihua mit einem möglichst unschuldigen Lächeln. Giacomo zu provozieren war ein ebenso schändliches wie reizvolles Vergnügen. Er bemühte sich, zornig und streng aufzutreten wie jene Machthaber, mit denen Meihuas Vater oft zu tun hatte. Aber sie konnte seine Unsicherheit riechen wie seinen Schweiß. Er war ein Fremder auf dieser Insel, jung, verwirrt und häufig ratlos.

»Gott der Herr hat die ganze Welt erschaffen. Auch diese Insel. Sein Sohn starb, um die gesamte Menschheit zu erlösen.«

Nun hatte Giacomo eine aufrechte Haltung angenommen, die ihn älter wirken ließ als seine 20 Jahre. Meihua spürte seine Überzeugung wie eine Kraft, die ihn stützte, wenn er ins Schwanken geriet. Dennoch konnte sie die aufmüpfigen Gedanken nicht im Zaum halten.

»Wenn wir alle erlöst wurden, warum hungern immer noch so viele Menschen? Warum gibt es Kriege und Leid?«

»Weil die Menschen schwach und sündhaft sind und das Wort Gottes nicht hören wollen«, erwiderte Giacomo sogleich. »Eben so, wie es in der Stelle aus dem Evangelium des Matthäus beschrieben wird.«

Er streckte das Kinn hoch, offenbar zufrieden, eine so passende Erklärung gefunden zu haben.

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